22.09.2012

Von Strohhütten und Landschlössern

Der Cottagegarten: Wie aus den einfachen Gärten der Landbevölkerung kunstvolle Kompositionen wurden

Michael Breckwoldt

Mit Stroh gedeckte, schlecht verputzte Hütten -  das waren die so genannten Cottages der Landarbeiter im 19. Jahrhundert. Die Menschen, die hier hausten, hatten kaum Geld und noch weniger Freizeit. Sie lebten mit dem Vieh unter einem Dach und bestellten den Boden vor der Tür mit Obst und Gemüse. Mischten sich Wildkräuter dazwischen, wurden diese geduldet. Die Leute hatten einfach keine Zeit, die Beete sauber zu halten. Teils wuchsen auch Heilkräuter darunter, um die spärliche Hausapotheke zu ergänzen. Jeder frei werdende Quadratmeter wurde gleich wieder nutzbar gemacht, denn nackter Boden wäre schlichtweg Verschwendung gewesen. Von außen betrachtet herrschte hier ein wildes Durcheinander, das sich mehr oder weniger selbst regulierte. Jedoch mit dem was zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Namen „Cottagegarten-Stil" den englischen Garten berühmt machte, hatten die Nutzgärten der armen Landbevölkerung wenig gemein.

„Ich liebe Gärten von überwältigender Fülle, in denen sich die Blumen aufs Geratewohl ausbreiten können. Pflanzen müssen mich überraschen, etwa Veilchen, die plötzlich in einem verborgenen Winkel auftauchen, und Stockrosen, die sich aus den breiten Fugen eines Weges zwängen. Klassische Staudenbeete sind mir viel zu starr und festgelegt. Beete müssen dicht bewachsen sein, sodass kein Boden mehr zu sehen ist", schwärmte Nancy Lancaster, die große Dame der britischen Gartenkultur. Gemeint war damit eben jener Stil, den man als „Cottagegarten" bezeichnet - eine wildromantische Art des Gärtnerns mit altmodischen Pflanzen wie Nelken, Rittersporn, Sommersalbei, Mohn, Fingerhut, Bartnelken, Geißblatt und Rosen, deren schalenförmigen Blüten in samtartigen Rot- und Rosatönen betörend duften. Umflort von dieser Blumenfülle wurde ebenfalls ein altes Glashaus im Garten der Lancaster, in dem sie neben jungen Pflanzen auch edle Weinstöcke kultivierte (www.kelmarsh.com/TheGardens.aspx).

Die Lady amerikanischer Herkunft verkehrte im Kreis um Winston Churchill. Legendär war eine ihrer Sommerpartys im Jahr 1938 auf ihrem Gut Ditchley Park in Oxfordshire, bei der die exzentrische Hausherrin den 2.000 geladenen Gästen einen strengen Dresscode auferlegte: Alle Damen sollten sich rot oder weiß und die Herren ganz in Schwarz kleiden. Auch für die Kunst des Gärtnerns besaß die Lady ein besonderes Händchen. Der ausgefallene Bepflanzungsstil, den sie pflegte, wurde in der besseren britischen Gesellschaft salonfähig.

Die Metamorphose von den schlichten Gärten der Landarbeiter zu Lady Lancasters üppigen Gartenparks war kein einfacher, geradliniger Prozess. Sie war das Ergebnis einer Idealisierung des Landlebens, die die Künstler ins Bild setzten. Von außen betrachtet besaßen die bunten Flickenteppiche vor den ärmlichen Hütten ja durchaus eine eigentümliche Schönheit. Nach Jahrzehnten der Industrialisierung hatten viele Menschen das laute, unruhige Leben in den rasant wachsenden Städten satt. Idyllische Bilder, die das Landleben verklärten, trafen den Nerv der Zeit und beflügelten eine zu Wohlstand und Ansehen gekommene Mittelschicht, sich aus den Ballungszentren abzusetzen. Diese kaufkräftigen Interessenten bescherten Architekten, Handwerkern und Gärtnern vor rund hundert Jahren eine lukrative Auftragslage.

Für den aufkommenden natürlichen Gartenstil entwickelte Gertrude Jekyll, die in London Kunst studiert hatte, das ästhetische Regelwerk. Ein Freund von ihr beschreibt Jekylls frühe Gärten als die „perfekte Wildnis". Sie brachte das Blumenrepertoire der schlichten Cottagegärten mit den attraktiven Staudensorten zusammen, die Züchter mittlerweile aus vielen Wildpflanzen ausgelesen hatten. Ihr Studium der Farbenlehre, die intensive Beschäftigung mit Malern wie Monet, Cézanne und Turner sowie ihr außergewöhnliches Talent machten sie selbst zu einer Künstlerin, die es verstand, Rabatten virtuos wie Gemälde zu komponieren, die am Ende aussahen wie Abbilder der Natur. In dem Architekten Edwin Lutyens fand sie einen kongenialen Partner, der ihren malerischen Pflanzungen einen klaren Rahmen gab.

Gewächshäuser spielten im Cottagegarten im Übrigen eine unverzichtbare Rolle, wie Christopher Lloyd in seinem Buch „Der Cottagegarten" festhält. Sie wurden „schon seit Generationen dazu verwendet, Samen zum Keimen zu bringen und empfindliche Pflanzen zu ziehen", schreibt er. Allerdings weist der berühmte Autor und Wegbereiter des typischen „English Garden" darauf hin, dass moderne Glashäuser eher als Fremdkörper empfunden werden könnten. Daher passen in einen Cottagegarten vor allem traditionelle Gewächshaustypen.

Lloyd schuf den Garten Great Dixter in East Sussex, eines der Paradebeispiele englischer Gärten (www.greatdixter.co.uk) - In diese Kategorie gehört natürlich auch Sissinghurst Castle in Kent. Dort hatten Vita Sackville-West und ihr Mann Harold Nicolsen ihre weitläufige Anlage ab 1931 gestaltet. Einer der schönsten Teile von Sissinghurst neben dem berühmten „Weißen Garten" heißt „Cottagegarten". Doch auch wenn der Name eine andere Deutung nahe legt: Zwischen den wilden Nutzgärten der Landbevölkerung und diesem kunstvoll geordneten Chaos liegen Welten.