29.11.2016

Die Erfolgsgeschichte der Staudengärten

Von der ästhetischen Komposition hin zur Orientierung an den Lebensbereichen der Stauden

Michael Breckwoldt

Was für ein Fest: Wenn im Juni in den Gärten von Sissinghurst Castle Fackellilien wie Taktstöcke über den Blütenschirmen der Schafgarbe kreisen, wenn Fingerkraut, Taglilien, Königskerzen und Feuerwolfsmilch in die Symphonie aus Gelb, Rot und Orange einstimmen, dann strömen Heerscharen von Besuchern durch die berühmten Beete im südenglischen Kent. Ihre Farbenpracht hat das Bild einer perfekten Staudenanlage entscheidend geprägt. Mit ihr lieferten britische Gärtner in der Mitte des 20. Jahrhunderts erneut eine stilistische Vorlage, die weltweit kopiert wird. Und sie ist nur die renommierteste Anlage in einer langen Reihe britischer Gärten, die ihr ebenbürtig sind. „English Borders“ und „English Gardens“ haben vor allem im letzten Jahrhundert Maßstäbe innerhalb der grünen Zunft gesetzt. Mit ihnen verbunden sind Namen wie Gertrude Jekyll, Vita Sackville-West, Rosmary Verey, Penelope Hobhouse und Christopher Lloyd. Sie haben sich weit über die Grenzen des Königsreichs hinaus Geltung verschafft.

Doch seit mehr als 30 Jahren erregt ein Werk Aufsehen, das mit der Tradition, Beete allein nach ästhetischen Gesichtspunkten anzulegen, radikal bricht. Und o Wunder, dieses Buch stammt nicht aus dem Inselland der Gärten, sondern aus Deutschland. Es heißt Die Stauden und ihre Lebensbereiche, geschrieben von Richard Hansen. Hansen lehrte jahrzehntelang an der Fachhochschule Weihenstephan und begründete dort einen der schönsten Staudengärten Deutschlands. 1993 wurde das Buch ins Englische übersetzt und macht seitdem im Königreich Furore.

Erst vor knapp 100 Jahren startete die Erfolgsgeschichte der Stauden. Eine Garde junger Züchter hatte aus einer überwältigenden Vielfalt prachtvolle Sorten ausgelesen, die nun die Gärten eroberten. Die winterfesten Schönheiten bezauberten durch ihren natürlichen Charme und wurden enthusiastisch von den Menschen aufgenommen, deren Lebensgefühl Jugendstil und Expressionismus geprägt hatten. Während englische Gartengestalter die Beete vor allem nach den Gesetzen der Kunst komponierten, blieb die deutsche Zunft dem Naturideal treu. So prägte der berühmte Züchter Karl Foerster schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Begriff „Wildnisgartenkunst“. Der charismatische Gärtner aus Potsdam zog viele Gleichgesinnte an, darunter Richard Hansen. Mitte der Dreißigerjahre arbeitet der 1912 in Kiel geborene dort als Gehilfe.

Der spätere Gartenbauprofessor entwickelte eine Gestaltungslehre, die sich die Pflanzengesellschaften in der Natur zum Vorbild nimmt. So erkundete er die Lebensbedingungen einzelner Stauden zunächst an ihrem natürlichen Standort. Viele Zierfarne beispielsweise wuchsen ursprünglich im Wald ebenso wie Silberkerzen, Herbstanemonen und Funkien. Sie sind daran gewöhnt, dass mächtige Baumkronen sich über ihnen ausbreiten, die das Licht filtern und die Luft kühl halten. Ihre Wurzeln saugen aus den feuchten Laubschichten am Boden lebensnotwendige Nährstoffe. Die Walderde ist reich an Humus, der sich nach und nach zersetzt und den Pflanzen beste Lebensbedingungen bietet. Im Garten werden sie sich dort wohl fühlen, wo sie ähnlich gut versorgt sind. Andere Pflanzen besiedeln im Wald Plätze, an denen sie das Sonnenlicht mehr verwöhnt, etwa Lichtungen und offene Waldränder. Auch Niederschlagsmenge und Bodenart wirken sich auf das Wachstum aus. Hansen unterscheidet für den Garten sieben Lebensbereiche, die sich an den Naturstandorten Wald, Waldrand, Steppe, Schotterflächen, Gebirge, Sumpf und Wasser orientieren.

Pflanzen, die durch Züchtung stark verändert wurden, haben den Bezug zu ihren natürlichen Wurzeln so weit verloren, dass sie in einer eigenen Gruppe, dem „Lebensbereich Beet“, zusammengefasst wurden. Hansens Gliederung der Staudenwelt eröffnet ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten, das haben mittlerweile auch die Briten erkannt, vor allem jene, die nicht länger nur auf die eigene Tradition pochen. Mehr noch: Der britische Gartenarchitekt Christopher Bradley-Hole, der auf der renommierten Chelsea Flower Show schon mehrere Goldmedaillen gewonnen hat, behauptet sogar, der durch Rasenflächen, Kletterrosen, Staudenbeete und Cottage-Style-Pflanzen geprägte englische Gartenstil habe im Mutterland selbst den „Fortschritt verhindert und zum Stillstand geführt“. Er hält die „ökologisch bewusste Art der Verwendung von Stauden und Gräsern“, die Hansen aufbauend auf Karl Foersters Erkenntnissen entwickelt hatte, für inzwischen wegweisend. Noel Kingsbury, britischer Staudengärtner und Gartengestalter aus Bristol, pflichtet seinem Kollegen bei: „Gerade der Pflanzenökologie hat die britische Pflanzenverwendung bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt“, sagt er.

Auf dem europäischen Festland hat sich neben Hansen auch der niederländische Gestalter Piet Oudolf einen Namen gemacht. Er setzt mittlerweile weltweit neue Maßstäbe. Hohe Gräser und Halme, rauschendes Chinaschilf und naturhafte Stauden prägen seine Handschrift. Oudolfs Gärten erinnern an Dünenlandschaften und sie sind zu jeder Jahreszeit schön, auch noch im Winter. Eine genaue Betrachtung offenbart, dass der wildnishaften Anmutung eine exakte Komposition zugrunde liegt, die sich mehr an den Formen der Gewächse als an deren Blütenfarben orientiert. In einer seiner populärsten Anlagen, dem „Garden of Remembrance“ für die Opfer des 11. September im Battery Park von Manhattan (New York), ist auf diese Art etwas Einmaliges gelungen: Sie macht das Thema Sterben sichtbar – in einer Ästhetik des Verblühens. Wer jüngst die herbstliche Verwandlung der Gärten betrachtet hat, konnte diese Form der Ästhetik ebenfalls erleben.