17.11.2014

Orchideen sind listige Verwandlungskünstler

Über die Mimikry der Orchideen und ihre Kultivierung im Gewächshaus

Michael Breckwoldt

Wer Orchideen nur als Zimmerpflanze kennt oder vielleicht noch aus den Glashäusern der Botanischen Gärten, könnte sie für harmlose Blütenschönheiten halten. Doch in Wahrheit sind sie eiskalte Verführerinnen. Jahrmillionen der Evolution haben in ihnen ein Instrumentarium an Reizen hervorgebracht, das sie den harten Überlebenskampf in den Tiefen des Dschungels bestehen lässt. Aber nicht nur dort. Auch in den Sümpfen Europas, den Küsten rund ums Mittelmeer und in den Höhen der Anden zeigen die Grazien ihr wahres Gesicht. Und dieses Gesicht ist das Spiel der Mimikry, also die Fähigkeit des Verstellens und Täuschens. Diese Taktik ist so alt wie die Liebe selbst. Denn das Ziel ist immer das Gleiche: Es geht um die eigene Nachkommenschaft und darum, die Art zu erhalten. Zu diesem Zweck narren Orchideen Wespen, Schmetterlinge und Bienen, die glauben, sich mit ihnen paaren zu können. Die blendende Schönheit dient aber eben nur der eigenen Fortpflanzung.

Dennoch spielen die Hormone des Erdwespenmännchens (Trielis ciliata) urplötzlich verrückt, wenn es in die Nähe der Spiegel­Orchidee (Orphrys speculum) kommt. Wie von Sinnen stürzt sich das Insekt auf die blau schillernde Lippe, den hervorstechendsten Teil der Blüte, weil die mit ihren rostroten Haaren einem Wespenweibchen zum Verwechseln ähnlich sieht. Mit zuckenden Bewegungen klammert der Liebhaber sich fest. Und nie wird er erfahren, dass er dem raffinierten Betrug einer Blüte aufsitzt. Statt eines Liebesaktes vollzieht er einen Liebesdienst. Schwirrt mit Pollenpaketen auf dem Kopf zur nächsten Orchideenblüte, die ihn mit empfangsbereiter Narbe wartet – und bleibt wieder ohne Befriedigung.

Die Waffen der Verführung im Reich der Orchideen sind vielfältig. Neben der optischen Täuschung senden die Blüten Düfte aus, die den Lockstoffen der Insektenweibchen gleichen. Oder sie benebeln dermaßen die Sinne, dass das Insekt trunken in eine Höhle stürzt, die es beim Verlassen üppig mit Pollen bepudert. In einigen Fällen werden die Liebesdiener zumindest mit dem Nektar der Blüten belohnt.

Um die Herzen der Menschen zu gewinnen, bedienten sich die Orchideen jedoch einer anderen Taktik. Ihnen näherten sie sich anfangs in ganz unscheinbarer Verkleidung – und auch diesen Trick hätte sich ein Verwandlungskünstler nicht effektvoller ausdenken können. Um 1820 herum erhielt der englische Gärtner William Cattley eine Lieferung exotischer Pflanzen aus Südamerika. Damit die wertvolle Fracht die unruhige Seereise gut überstand, waren die Transportkisten mit dicken Lagen trockener Pflanzenbüschel ausgepolstert worden. Teile des Verpackungsmaterials zeigten allerdings noch Spuren grünen Lebens. Cattley pflanzte die Reste dieser Büschel ein und aus dem unscheinbaren Holz brachen nach einiger Zeit hinreißend schöne Blüten: groß, lavendelfarben, von betörendem Duft. Diese Orchidee heißt nach ihrem Entdecker Cattleya labiata. Sie entzündete in jedem Betrachter den Drang, sie zu besitzen. Daraus erwuchsen „Habgier, Neid und Betrug. Für die schönsten Pflanzen wurden ganze Vermögen bezahlt“, schreiben die britischen Orchideenexperten Wilma und Brian Rittershausen.

Zunächst fahndeten Sammler in allen Erdteilen nach neuen Orchideen­Arten. Der Hype um diese Pflanzen löste eine „Revolution im Gartenbau“ aus. Spezielle Gewächshäuser wurden gebaut, um die Kultur der tropischen Pflanzen besser in den Griff zu bekommen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts sorgten Züchter dafür, dass die exotische Kostbarkeit für einen größeren Kundenkreis erschwinglich und schließlich 100 Jahre später zur Allerweltspflanze wurde. Mehr als 110.000 Orchideenhybriden sind seither gezüchtet worden. Heute erscheinen sie vielen Menschen als unschuldige Zimmerblumen. Dazu wurden sie dressiert. Doch was nicht alle wissen: In jeder von ihnen steckt nach wie vor eine kleine Mata Hari. Die berühmte Spionin des Ersten Weltkriegs, die ihre ranghohen französischen Verehrer im Auftrag des deutschen Nachrichtendiensts aushorchen sollte, beherrschte die perfekte Verstellung, wie eine Orchidee.