25.06.2015

Warum Erdbeeren eigentlich Erdnüsse heißen müssen

Was die Erdbeere wirklich ist, und von der Bedeutung der Morphologie

Michael Breckwoldt

Der Lehre der Herkunft und Bedeutungen von Worten – kurz: der Etymologie – zufolge dürfte kein Zweifel bestehen: Erdbeeren sind Beeren – oder etwa nicht! Über die roten Sommerfrüchte schreibt der Botaniker Heinrich Marzell 1943: „Der Name bedeutet die nahe an der Erde wachsende Beere.“ Schon rund 400 Jahre zuvor heißt es beim Arzt Hieronymus Bock: „diß kraut kreücht und fladert auff der erden.“

Hildegard von Bingen nennt die Pflanze in ihrem Hauptwerk Physica aus dem 12. Jahrhundert, in dem sie die Heilkräfte der Natur beschwört: Erpere. Dieser Form steht das mittelhochdeutsche ertber zur Seite, das zu Bingens Zeit gesprochen wurde. Im Althochdeutschen heißt es ertberi. Immer klingt die Beere an, ebenso wie in vielen mundartlichen Bezeichnungen wie „Rotbeere“, „Rankbeere“ und „Flohbeere“. Letztere bezieht ihren Namen von den flohgroßen Samen, die gut sichtbar im Fruchtfleisch stecken.

Diese Samen nun haben das Geheimnis der Erdbeere verraten. Genauer unter die Lupe genommen kamen Botaniker zu dem überraschenden Schluss, dass es sich bei ihnen um Nüsse und bei den roten Früchten somit um Sammelnussfrüchte handelt. Zu dieser interessanten Erkenntnis bedurfte es jedoch zunächst der Morphologie. Doch der Reihe nach.

Im 16. Jahrhundert kommt der italienische Arzt und Philosoph Andrea Cesalpino als einer der ersten Naturforscher zu einer klaren Gliederung des Pflanzenreichs. Er unterscheidet Holzgewächse und Kräuter voneinander. Als weiteres Kriterium zieht er den Bau und die Samenzahl der Früchte heran. Sein System fasst zum Beispiel Sträucher mit einsamigen Früchten wie Haselnuss, Eiche und Pflaume zusammen sowie Kräuter mit vielen Früchten, also Sonnenblumen, Mohn und Baumwolle. Dafür erntet er noch zwei Jahrhunderte später Lob vom schwedischen Naturkundler Carl von Linné, dem Begründer der modernen Pflanzenordnung.

Trotz scharfer Beobachtungsgabe geriet dem Italiener allerdings einiges durcheinander. Er übersah die Bedeutung der Blüte für die Systematik und erklärte die sexuelle Fortpflanzung der Pflanzen für absolut unmöglich. Dafür hätten die Pflanzen, so Cesalpino, eine Seele, die genau am Verbindungsstück von Wurzel und Spross sitze. Auch unterschied der Forscher nicht deutlich genug zwischen den Merkmalen, die die äußere Gestalt einerseits und die Lebensvorgänge der Pflanzen andererseits betreffen – heute würden wir sagen: zwischen ihrer Morphologie und ihrer Physiologie.

Einer, der genauer hinschaute, war der deutsche Dichterfürst aus Weimar, Johann Wolfgang von Goethe. Er habe sich erstmals bemüht, „die mannigfaltigen Abwandlungen der Pflanzengestalt in ihrem Zusammenhang zu erfassen“. lobt der Wissenschaftshistoriker Karl Mägdefrau in seinem Buch über die Geschichte der Botanik von 1992. Denn rund 200 Jahre zuvor hatte Goethe schon den Begriff Morphologie geprägt, der noch heute gleichermaßen benutzt wird. Die Morphologie entwickelte sich innerhalb der Biologie zu einer eigenständigen Disziplin. Ihre Aufgabe ist es, die Formen der Pflanzen und deren Organe exakt zu beschreiben.

Samen sind der Morphologie nach Teil einer Frucht. Sie entstehen im Fruchtknoten der Blüte, wo sie von Fruchtblättern umgeben sind. Nach der Befruchtung, also dem Eindringen des Pollens in die Narbe und dessen Verschmelzung mit Eizellen, beginnt die Entwicklung der Samen. Aber nicht von ihnen, sondern von den Fruchtblättern hängt ab, wie die Früchte später aussehen– und davon wiederum oft ihre Bezeichnung. Zur  Entstehung einer Beerenfrucht trägt bei, dass die Fruchtblätter stark anschwellen und zunehmend saftiger werden. Die Samen befinden sich schließlich im Inneren der Beere. Sie kommen erst frei, wenn die Fruchtwand verrottet oder aufgefressen wird.

Wie ist es nun mit den Erdbeeren? Viele ihrer Samen sind von außen sichtbar. Schon allein das spricht gegen die Beere. Typische Beerenfrüchte sind Stachel-, Johannis-, Blau-, Heidel- und Preißelbeeren. Sogar Weintrauben, Wassermelonen, Bananen, Gurken, Granatäpfel und Zitrusfrüchte gehören zu dieser Gruppe.

Für Nussfrüchte, zu denen die Erdbeeren zählen, ist hingegen charakteristisch, dass der oder die Samen von einer harten, holzigen Schale umschlossen sind, wie bei der Haselnuss, der Erdnuss, der Kokosnuss, der Mandel und auch bei der Sonnenblume. Es handelt sich dabei jeweils, wie gesagt, um Früchte. Genießbar sind aber oft nur deren Samen. Bei der Erdbeere ist weder die Frucht noch der Same sonderlich schmackhaft. Was wir uns als saftiges Fruchtfleisch auf der Zunge zergehen lassen, ist der ehemalige Blütenboden der Pflanze, der verführerisch saftig angeschwollen ist. In ihm stecken viele kleine harte Nussfrüchte, die zwischen den Zähnen knacken, wenn man eine Frucht verspeist. Genau genommen sind Erdbeeren daher Sammelnussfrüchte, genauso wie die Hagebutten der Rosen.