22.04.2014

So wird Unkraut zum Wildgemüse für Gourmets

Delikatessen aus Natur und Garten: Wildpflanzen und Wildkräuter

Michael Breckwoldt

Noch ist der Wildwuchs für die meisten Gartenbesitzer ein Ärgernis. Denn sie haben nicht das Potential erkannt, das in dem Grünzeug steckt, das die Natur ihnen direkt vor ihrer Haustür serviert. Der Hype um die Wildkräuter steht erst am Anfang. Seit einigen Jahren schon erproben Spitzenköche die daraus erwachsenen völlig neuen Geschmacksnuancen - sei es in Form kleiner Salatkreationen oder ausgetüftelter Menüfolgen wie die des Altmeister der Wildpflanzenküche Jean-Marie Dumaine. Vor Jahren schon nannte ihn die „Frankfurter Allgemeine" einen „Vorboten der Revolution". Wie recht sie damit behielt. Der in der Normandie geborene Koch zaubert in seinem Restaurant „Vieux Sinzig" in der Nähe von Bonn schon seit Jahrzehnten Köstlichkeiten aus einer Fülle von Wildpflanzen auf den Tisch (mehr unter: www.vieux-sinzig.com). Heute machen es ihm Viele nach, was eine Vielzahl in jüngster Zeit erschienener Kochbücher beweist, mit Titeln wie „Das Wald- und Wiesekochbuch" oder „Wildes Grün - verführerische Wildpflanzenrezepte".

Das stark gestiegene Interesse an naturbelassener Nahrung macht den Wildwuchs neben ökologisch angebauten Produkten für die tägliche Ernährung wieder interessant. Bis in die 1950er Jahre bildete er schon eine wichtige Grundlage für die tägliche Nahrung, was teils auch eine Folge des Krieges war. In Kochbüchern aus dieser Zeit werden noch ganz selbstverständlich Holunderbeeren und Hagebutten zu Suppen und Soßen sowie Brennnesseln, Löwenzahn, Melde und Sauerampfer zu spinatartigem Gemüse verarbeitet. Jahrhundertelang galt Scharbockskraut als sicheres Mittel gegen die Mangelkrankheit Scharbock, besser bekannt unter dem Namen Skorbut. Schon als Kind lernte man früher häufig die hilfreichen Pflanzen kennen - als Erwachsener griff man dann ganz selbstverständlich zum Wermut, wenn beispielsweise der Magen kniff. Man wusste schon aus Erfahrung, dass diese »bittere Medizin« guttat.

Anders als das mit Geschmacksverstärkern und künstlichen Aromen versetzte industriell hergestellte Convenience-Food besitzt das Wildgemüse noch den unverfälschten Geschmack. Es ist oft sogar reicher an Mineralstoffen, Vitaminen und Proteinen als Obst und Gemüse aus dem Handel. Hagebutten und Sanddorn enthalten zum Beispiel etwas dreißig Mal mehr Vitamin C als Zitronen. Ein goldenes Händchen besitzt Jean-Marie Dumaine, wenn es darum geht die Allerwelts-Kräuter, die an jeder Ecke wuchern, zu erlesen Köstlichkeiten zu veredeln, zum Beispiel zu einer Kräuter-Crème-Brûlée mit Löwenzahn, Sauerampfer und Brennnessel. Auch der von Gärtnern allseits gescholtene Giersch erscheint bei ihm in völlig neuem Glanz, der ihn geradezu begehrenswert macht. Dazu muss man nur einmal seine Gierschmousseline probieren, die zu Langustinen serviert wird. Diese und rund 150 weitere Rezepte sind nachzulesen in Dumains Klassiker „Meine Wildpflanzenküche".

Das Beste ist allerdings: Wer die Delikatessen aus der Natur nutzen möchte, braucht kein Gewächshaus, er braucht noch nicht einmal einen eigenen Garten. Denn sie sind frei verfügbar. Zum Sammeln in der näheren Umgebung bieten sich Brachflächen an, zum Beispiel Grünstreifen abseits von Straßen, Uferböschungen sowie Wiesen- und Waldränder, sofern diese ökologisch bewirtschaftet werden. Auch in Landschaftsschutzgebieten dürfen Pflanzen zum privaten Gebrauch gesammelt werden. Gartenbesitzer haben es jedoch eindeutig noch besser - vorausgesetzt, sie betrachten den Grünwuchs nicht länger als lästiges Unkraut. Die kulinarischen Schätze wachsen ihnen direkt vor der Nase. Zudem können sie sicher sein, dass sie unbelastetes Kraut ernten. Wer zudem ein Glashaus besitzt, kann ausgewähltes Wildgemüse in Töpfe setzen und im Frühjahr vortreiben, um schon zu Beginn des Jahres in den Genuss der zarten Pflänzchen zu kommen. So zumindest handhaben es viele Profigärtner, um der gestiegenen Nachfrage an wildem Grün seitens der Gastronomie nachkommen zu können.

Zum Einstieg empfehle ich folgendes: Probieren Sie einfach einmal das junge Kraut der Vogelmiere, das jetzt im Frühjahr auf Beeten und in Töpfen sprießt. Die obersten Triebe werden einfach mit der Schere abgeschnitten und in grüne Salate gemischt. Auf diesen aromatisch nussartigen Geschmack möchten Sie dann nicht mehr verzichten.