24.10.2016
So kommen Salate in amerikanischen Großstädten aufs Dach
Urbaner Gartenbau / urban gardening und urban farming
Michelle Obama, die Frau des amerikanischen Präsidenten, erntet im Spätsommer 2016 im Küchengarten des Weißen Hauses mit Schülern das letzte Mal Gemüse. Dieses Projekt, das vor knapp acht Jahren ein weithin beachtetes Signal an die Menschen der USA sendete, sich stärker um gesunde Ernährung zu kümmern, wird mit der Wahl eines neuen Präsidenten wohl nun enden. Das kümmert die Schüler herzlich wenig. Mithilfe von Grabegabeln sind sie mit Feuereifer dabei, die Spätkartoffeln aus dem Boden der Beete zu buddeln. Wer so etwas schon einmal erlebt hat, kennt die Begeisterung, die sich mit jeder goldgelben Knolle einstellt, die aus der braunen Erde hervorleuchtet – eine Stimmung wie beim Ostereiersuchen. Breitbeinig und auf eine Gabel gestützt steht die First Lady auf dem Beet und leitet die Kinder an. Mit Jeanshose, Holzfällerhemd und kakigrüner Weste könnte sie ebenso gut Obergärtnerin eines der neuen Urbanen Gartenprojekte sein, die in den letzen Jahren in vielen US-amerikanischen Städten aus dem Boden geschossen sind.
Urbane Gärten finden sich mittlerweile auch in jeder größeren deutschen Stadt. Menschen haben sich zusammengetan und bewirtschaften ein Stück Land, das in den meisten Fällen von der Stadt zur Verfügung gestellt wurde, so etwa in Berlin das Allmende Kontor auf dem Tempelhofer Feld, in Hamburg St. Pauli das Gartendeck oder NeuLand in Köln- Bayenthal. Getrieben von unterschiedlichen Motivationen verbindet alle die Lust daran, Gemüse, Obst und Kräuter selbst anzubauen. Der Gedanke der Selbstversorgung spielt sicher auch immer eine Rolle. Doch angesichts geringer Erfahrungen und in den meisten Fällen fehlender eigener Flächen stehen die Glücksgefühle des gemeinsamen Gärtners, das Erleben der Natur und das Staunen über die Ernte im Vordergrund.
Generell leben wir in einer immer rasanteren und enger getakteteren Welt. Wir glauben, wir wären gezwungen, damit Schritt zu halten. Doch ist das wirklich so? Können wir nicht ein Stück Autonomie zurückgewinnen? Uns aus dem reißenden Strom der Zeit herausheben? Die Suche nach Ruhe, sei es in Form abgeschiedener Orte oder eines Innehaltens, nimmt zu. Neu daran ist, dass man diese Suche nicht mehr als Flucht aus den Städten begreift sondern als Beginn einer Veränderung sieht. „Was sollen Gemüsebeete neben dem Bürgersteig, was selbst gebaute Stadtmöbel (…) schon bedeuten. Das Leben, das man lange aus den Städten vertrieben wähnte, drängt mit Macht in sie zurück“, schreibt der auf Stadtentwicklung spezialisierte Autor und Journalist Hanno Rautenberg in seinem Buch „Wir sind die Stadt“. Zugleich liefert er Hinweise, was die Menschen bewegt, die dem Trend des urbanen Gärtnerns erliegen. Einerseits treibt sie „eine Sehnsucht nach krisenfestem Leben, eigenversorgt und eingebunden in den Rhythmus der Jahreszeiten“. Über diese materielle Ebene hinaus erlebt der moderne Stadtmensch eine Befriedigung darin, dass der Garten ein Ort ist, „der nach eigenen Regeln funktioniert – und nicht nach denen der unbedingten Effizienz und Rationalität“. Der Garten fungiert gleichsam als eine Art sichere Insel inmitten dieses reißenden Stroms, in dem wir uns zuweilen glauben. „Wer in der Erde wühlt, wer etwas anbaut, etwas kultiviert, der bemerkt rasch, dass sich nicht nur ein Stück Land, sondern auch ein Stück seiner selbst verändert.“
Inzwischen gewinnen diese Inseln innerhalb der Städte zusehends an Größe. Doch zu den Gemeinschaftsgärten des Urban Gardening kommen zunehmend kommerziell betriebenen Unternehmen des Urban Farming. Mitten in New York werden derart mittlerweile hunderte Hektar städtischen Raums bewirtschaftet. Eines der ersten Projekte war die Brooklyn Grange Rooftop-Farm, die dort auf einem Lagerhausdach vor der Skyline Manhattans eine Fläche von 6000 Quadratmetern in Kultur genommen hat. Die 34-jährige Chefin saß zuvor in einem verglasten Eckbüro der Metropole als Assistentin eines weltweit agierenden Gastronomen. Sie und ihr Mitgründer, ein ehemaliger Unternehmensberater, starten die erste Rooftop-Farm 2009 infolge der Finanzkrise. Die Erzeugnisse, die von 13 Festangestellten, alles junge Leute, angebaut werden, landen auf den Tischen von Restaurants, in den Läden der Nachbarschaft und auf Märkten. Ähnliche Vermarktungsstrategien verfolgt auch die New Yorker River Park Farm, die ihr Gemüse in über 7000 Kunststoffkisten direkt am East River kultiviert und ein eigenes Restaurant betreibt. Gotham Greens, ebenfalls ein New Yorker Unternehmen, baut auf die Flachdächer von Industriegebäuden professionelle Gewächshäuser und lässt dort heute auf inzwischen 170 Hektar Fläche vor allem diverse Salate, sogenannte Microgreens und Tomaten in Bioqualität produzieren, die unter anderem über eigene innerstädtische Läden verkauft werden.
Etwas Ähnliches plant der Hamburger Unternehmer Mark Korzilius, einst Mitbegründer der Restaurantkette Vapiano. Einige Millionen Euro wird er in die Salatzucht seiner neuen Firma „Farmers Cut“ stecken, die auf 1300 Quadratmetern in vertikalen Glashäusern hinter dem Hamburger Hauptbahnhof entstehen soll. Im Mai 2017 sollen die ersten Baby Leaf Salate geerntet werden. Jährlich ist die Anzucht von über einer Millionen Portionen Salat geplant. Die Ware soll über den Großhandel ausgewählten Köchen und gleichzeitig über den direkten Verkauf privaten Kunden zugänglich gemacht werden. „Bisher liefert allein Spanien jedes Jahr 680.000 Tonnen Salat nach Nordeuropa“, sagt Korzillius im Hamburger Abendblatt vom 27. August 2016, „Kommt die Ware bei uns in den Supermarkt, hat sie kaum noch Vitamine“.